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"Ballett im Schauspielhaus" | ||
Premiere
am 30. März 2000
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Vier
Choreographien von Annett Göhre und Angel Blasco |
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POP, LUFT, TEENS und WO DER WIND DIE KURVE MACHT | |
Bühne: Detlef Flähmig | ||
Annett Göhre und Angel Blasco, beide Tänzer des Chemnitzer Ballettensembles, bereiteten einen neuen Abend „Tanz im Schauspielhaus" vor und setzen damit eine zwar unregelmäßige, aber doch sehr beliebte Tradition fort. | |
Der Spanier
Angel Blasco gestaltet POP, LUFT und TEENS
zu drei Tanzszenen, zu denen Techno- und Dance-Rhythmen, koreanische Trommeln
und Bach erklingen. Also eine Mischung, die sowohl die junge Generation
als auch die weniger Rave-erprobten älteren Freunde des Tanztheaters erreichen
will. POP hat Angel Blasco bereits aufgeführt, es ist eine Erfahrung mit dem Starkult, ein Tanz um und mit einem Poster von Leonardo di Caprio. LUFT verspricht eine tänzerische Auseinandersetzung mit dem Lebenselixier, das unsichtbar und nicht spürbar ist, dessen Kraft man erst merkt, wenn es knapp wird. „Luft der Liebe, der Macht, der Kraft und des Stresses" sind die Szenen untertitelt, in denen der Tänzer dem Begriff nachspürt, der im griechischen „Aeolos" auch „Leben" heißt. TEENS schließlich zeigt junge Menschen zwischen Pubertät und Erwachsenwerden, jene Grauzone, in der sich die junge Persönlichkeit entdeckt, findet und manchmal auch verliert. |
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Auch Annett Göhre hat bereits Erfahrungen als junge Choreographin gesammelt. In Carsten Knödlers Inszenierung nach E. A. Poes „Untergang des Hauses Usher" tanzt sie nicht nur die geheimnisvolle Madeline, sie hat auch die Choreographie zu dieser Gruselgeschichte geschaffen und mit den Schauspielern einstudiert. Der poetische Titel ihres Beitrags WO DER WIND DIE KURVE MACHT hat folgende Bewandnis: Annett Göhre kam irgendwann abends im Chemnitzer Bahnhof an. Niemand außer ihr und einer brasilianischen Kollegin stieg auf dem leeren Bahnsteig aus. Im Gefühl der menschenleeren Stadt sagte die Südamerikanerin plötzlich: „Bei uns sagt man zu einem solchen Ort: ,Das ist da, wo der Wind die Kurve macht‘." Dieses Gefühl und die Lektüre des rumänischen Gedichts „Der Westen" über die Einsamkeit des Flüchtlings am Fluchtpunkt Paradies brachten sie auf die Idee zu ihrer Choreographie, die die Entwurzelung - zum einen gewollt und angestrebt, zum anderen beklagt - zum Inhalt hat. Trauer um verlorene Identifikation ist, so meint man, ein Privileg der älteren Menschen. Annett Göhre ist anderer Meinung, sie beansprucht dieses Gefühl auch für sich selbst, für junge Menschen. | |
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KRITIK: "Leben als ewige
Irrfahrt Mit Wundertüten ist das so eine Sache: Von außen wirken sie ziemlich unscheinbar, allein ihr Name verspricht Überraschungen. Wenn ein Teil der ChemnitzerBallett-Company für einen Abend ins Schauspielhaus umzieht, das Programm dabei schlicht ,,Tanz" heißt, verhält sich das ähnlich. Vier Choreographien, vier Sujets, vier völlig unterschiedliche Interpretationen dessen was Ballett ausmacht: das Ausloten emotionaler Spannungsfelder, die Übersetzung extremer Seelenzustände in Bewegung, das Einfangen einer augenblicklichen Ästhetik. Alles zusammen? Nichts von alledem? Und wenn doch, wieviel wovon? Ganz einfach: In die Wundertüte muß alles hinein, zumindest, wenn sie vielen gerecht werden will; für den finalen Erfolg braucht es noch einen tiefen Griff in die unerschöpflich scheinende Trickkiste clownesker Elemente und schillernder Showeffekte. Jeglicher Erinnerungsoptimismus ist fehl am Platze, die Glanzzeit des klassischen Balletts eben vorüber. Fertig. Aus. Spaß heißt das Konzept statt dessen, gibt es Choreographien, die Musik, Licht und Tanz zu einem vielfarbigen Sinnenrausch verschmelzen -zweifellos den Dogmen der Postmoderne mit ihrer Videoclip-Kultur verpflichtet. Kunst ist Alltag, alles kann zu ihrem Gegenstand werden. Selbst ein Fön ist heute Symbol genug, dramaturgisches Gewicht zu bekommen; so geschehen in Angel Blascos ,,Luft". Das Element als Lebenselixier und gleichsam als das Leben selbst: Celia Millan und Benjamin Zettl scheinen zu schweben, zwischen Leichtigkeit und Bedeutungsschwere werden sie in einen Strudel der Emotionen katapultiert. Wie immer, wenn die menschliche Seele entdeckt wird, spielen plötzlich Beziehungen eine Rolle; so sanft wie ein gehauchtes Liebesgeständnis zunächst, nur Sekunden später tosend wie ein Gewittersturm aus Machtansprüchen und verletzten Eitelkeiten. Annett Göhre hingegen hebt sich in ihrer ersten Choreographie auffallend vom dem ab, was Chemnitz bis dato gesehen hat. Ihre manchmal nur minimal bewegten Bilder atmen Stille, lassen dem Leeren bewußt seinen Raum. Göhre selbst, Barbara Buck und Sara de Col begleiten das Individuum auf seiner Reise durch das Leben, einer Irrfahrt, die nichts ist als die dauernde Suche nach dem Gral, dem Glück, dem Gott; nach einer Sache, die unerreichbar bleibt. Bleiben muß. Grenzen tauchen auf, immer wieder, äußere und innere. Am Ende der Sinnsuche stehen die Erkenntnis der eigenen Vergänglichkeit, das Wissen um die Bedeutungslosigkeit eines einsamen Ichs im Meer der Seelen. Am Ende steht der Tod. Innerhalb eines Kreises von Metronomen, die den Takt des Daseins angeben und die verbleibende Lebenszeit, zeichnet Annett Göhre ein Bild der Verzweiflung, eines zwangsläufigen Scheiterns; szenisch umgesetzt in sich windenden Körpern, sich verzweifelt aufbäumenden Bündeln Mensch, denen die wenigen Glücksmomente nicht reichen, die gefangen sind in einer Schleife sich wiederholender Demütigungen und Mißerfolge. Zweifelsohne ein vielversprechendes Choreographie-Debüt, mit stehenden Ovationen und Bravorufen schon vor der Pause zu Recht gefeiert. Und sonst so? Unterhaltung pur, ganz einfach. Diese Tatsache bleibt nicht zuletzt der Musik geschuldet. Hämmernde Techno-Beats und Bach, City und koreanische Trommeln, die Bandbreite ist beeindruckend, die Wirkung nicht minder. Vor allem Angel Blascos Choreographien leben vom Wechselspiel der Sinne, der Symbiose von Gesehenem und Gehörtem. ,,Teens" taucht kopfüber ein in den Alltag eines Heranwachsenden, der sich selbst entdecken muß, dazu die Welt, die Frauen, die Liebe. Hilflos sieht er sich seinen Gefühlen ausgeliefert, den Zweifeln, der Angst; noch nicht ahnend, daß diese Auseinandersetzung dereinst zu seiner Lebensaufgabe werden soll. ,,Pop" schließlich karikiert mit einem Augenzwinkern die Welt der Stars: Da knutschen die Tänzerinnen schon mal das Porträt eines Hollywood-Schauspielers, da triumphiert der Schein über das Sein. Wie ein Déja-vu kommt es dem Zuschauer vor, hatte der extra aus Berlin eingeflogene DJ Rex Joswig Minuten vorher proklamiert, Entertainment sei die neue Philosophie. Wohl wahr, mag man an dieser Stelle erwidern, aber dann kommt der nächste Platon wenigstens aus Chemnitz. " Katja Uhlemann, Freie Presse, 31. 03. 00 |
Erstellt am 02.04.2000 | |||