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William Shakespeare
  "König Lear "
 
Premiere am 18. Juni 2011
   
    Regie: Enrico Lübbe
    Ausstattung: Michaela Barth
    Musik: Bert Wrede


Verjagt und in Fetzen, unter Blitz und Donner, irrt Lear über die weiten Felder Britanniens, die einst sein eigenes Königreich waren. In Begleitung lediglich seines Narren und des splitternackten Edgar, der im Irrsinn seine Rettung sucht, steht er vor den Trümmern der eigenen Utopie: Seinen Lebensabend ohne die Last der Regentschaft zu verbringen, hatte der alte König beschlossen, der Macht zu entsagen und sein Reich unter seinen drei Töchtern aufzuteilen. Für die größte Liebe wollte er den größten Teil seines Reiches geben - und er teilte es auf unter Goneril und Regan, die ihn anlogen, und verstieß Cordelia, weil sie nicht zu sagen vermochte, was er hören wollte.

 


Goneril und Regan aber entledigen sich bald der lästigen Pflicht, den Vater aufzunehmen, der nicht zur Ruhe kommen will. Sie verjagen ihn und verfolgen seine Getreuen. Doch beiden Schwestern ist das halbe Reich noch lange nicht genug. Eine Spirale aus Hass und Neid beginnt, Intrigen überschneiden sich, moralische Grenzen gibt es nicht: Goneril und Regan benutzen ihre Männer und deren Armeen im Wettlauf um die Herrschaft und um den jungen Edmund, der ihnen diese Herrschaft gewinnen soll. Edmund seinerseits verrät erst seinen Stiefbruder Edgar und dann seinen Vater, den Grafen von Gloster, für die Aussicht auf die Macht.
Die Schlacht um Britannien wird am Ende auf dem Feld geführt - aber begonnen hat sie lange vorher. Eine Sonnenfinsternis liegt über dem Stückgeschehen, wie die Figuren immer wieder feststellen, und auch der Mond scheint nur noch selten, und wenn, dann zeigt er Mördern den Weg: Die Natur hat sich verkehrt in Shakespeares "König Lear". Geschwister verraten sich gegenseitig, Eltern ihre Kinder, Kinder ihre Eltern. Konsequent wie selten verdichtete Shakespeare die großen Themen von Liebe und Hass, Treue und Verrat zu einem seiner dunkelsten und elementarsten Stücke - und fand dabei Bilder und Situationen, die für alle Zeit unter die Haut gehen.

 


Figuren der Extreme bevölkern dieses Stück, die für ihre Ziele alles tun. Sei es aus Hass - wie etwa Edmund, oder aus Loyalität- wie etwa Gloster: Geblendet aus Treue für seinen König Lear, steht er blind vor einem nackten Bettler, der in Rätseln spricht. Es ist sein eigener Sohn Edgar, der in dieser radikalen Verkleidung auf sein Überleben hofft, und er erkennt ihn nicht.

Text - Theater Chemnitz !!!

 
Die Premiere spielten:
Lear, König von Britannien
-
Bernd-Michael Baier
Graf von Kent
-
Dirk Lange
Graf von Gloster
-
Tilo Krügel
Edmund, Bastard Glosters
-
Wenzel Banneyer

Edgar, Sohn Glosters

-

Constantin Lücke

Goneril

-

Ulrike Euen

Regan

-

Daniela Keckeis

Cordelia
-
Caroline Junghanns
Herzog von Cornwall
-
Urs Rechn
Herzog von Albany
-
Michael Pempelforth
Oswald
-
Guido Schikore*

König von Frankreich

-

Karl Sebastian Liebich

Herzog von Burgund

-

Bernhard Conrad

 

 

* Studenten der Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy" Leipzig am Studio Chemnitz

     
     
 

KRITIK:

König Lear - Enrico Lübbe zeigt in Chemnitz einen minimalistischen Shakespeare
Museale Verheerung

Chemnitz, 18. Juni 2011. Der alte König in seinem Leid ist bald ein nackter Mann. Noch vor der Pause reißt er sich die Kleider vom Leib, es kann gar nicht schnell genug gehen mit dem Ausziehen und man versteht das wirklich gut in diesem Moment. Seine Verzweiflung, seine Empörung, seine Verletztheit über den Undank der Töchter Goneril und Regan und die Ungerechtigkeit der Götter sind so elementar, dass etwas geschehen muss, und wenn er nun hastig alle Kleider ablegt und damit in einen Zustand bloßer Kreatürlichkeit flieht, ist dies Ausdruck seiner tiefen Bestürzung, zugleich aber auch ein symbolischer Akt zur Wiederherstellung seiner Würde. Im Grunde setzt sich Lear, der berühmteste König ohne Königreich, die Krone der Hilflosigkeit auf.
Nach der Pause bleibt er nackt - und doch verändert sich etwas an seinem Äußeren. Grashalme, die aussehen, als seien sie erst vor wenigen Minuten in einem Chemnitzer Park gemäht worden, kleben nun, vereinzelt durchsetzt von weißen Blütenblättern, wie eine zweite Körperbehaarung auf seiner Haut. Seine Erscheinung wirkt seltsam verfremdet. Wahrscheinlich hat er nur in einer Wiese geschlafen, die Wiese aber hat etwas aus ihm gemacht, was von Ferne an einen Faun erinnert. Die Natur, von der König Lear in einem Anflug philosophischer Launenhaftigkeit sagt, sie gehe über die Kunst, scheint sich seines Altmännerkörpers bemächtigt zu haben.
Maß und Zurückhaltung statt Theater der Grausamkeiten
Das Bild ist eindrücklich und von einer getragenen, traurigen Schönheit. Und wenn dann die Grashalme im Scheinwerferlicht aufstieben, als er in seiner Ausweglosigkeit wie angestochen nach links rennt, nach rechts, noch einen Haken schlägt, dem Wahnsinn, dessen Ankunft er fühlt, entkommen will, brennt sich das einem auch nachhaltig ins Gedächtnis.
Vielleicht liegt das an der schlichten Schärfe dieser Bilder. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass der Chemnitzer Schauspielchef Enrico Lübbe (Regie) mit Bildern geizt an diesem Abend. Sein vom Premierenpublikum warm aufgenommene Shakespeare-Inszenierung setzt ganz auf Reduktion und strenge Formen. Wo die Handlung ein Übermaß an tragischem Geschehen aufweist, reagiert Lübbe mit Maß und Zurückhaltung. Das Blut wird zwar auch hier in Kübeln auf die Bühne getragen, Theater der Grausamkeiten geht aber anders.
Naturereignis Weltliteratur
Bisweilen könnte man aber auch glauben, im Kosmos des großen William gebe es neuerdings ein gleichsam mohammedanisches Bilderverbot, das stellenweise ein bisschen durchbrochen und durchlöchert wird, um sogleich wieder bußfertig jeder rauschenden Bildgewalt zu entsagen. Der Gedanke, dass in das Dämmerlicht der schwarzen Bühne, auf der es nichts gibt als einen großen, leicht erhöhten Holzboden, so etwas wie eine grelle Videosequenz oder anderes fettes Bildmaterial einbrechen könnte, hat beinahe etwas Frevelhaftes.
In seinem Minimalismus überschreibt und aktualisiert Lübbe nichts. Er will das Naturereignis eines (auf gut zweieinviertel Stunden eingedampften) Textes der Weltdramatik, umgibt ihn dazu mit einer hermetisch und entrückt wirkenden Leere, die alle Aufmerksamkeit auf die Darsteller lenkt. Sein "Lear" ist "klassisch" auf Einfühlung und Erschütterung getrimmt, und es ist die immer wieder erschütternde Geschichte über eine tragische Verblendung aus Liebe und die Verheerungen kalter Besitz- und Machtgier, die erzählt oder eigentlich mehr ausbuchstabiert wird.
Militärischer 90-Grad-Winkel
Wirklich erschütternd wirkt der Abend aber nicht, eher ein bisschen klein und museal. Womöglich haben die elementaren Kräfte in dieser Formstrenge zu wenig Raum, um zu wirken und zu wüten. Bezeichnend sind vielleicht die Bewegungen der Figuren auf der Bühne. Ihr Auftreten ist oft ein Vortreten an die Rampe, und beim Abtreten wird in gerader Linie nach hinten weggetreten, um dann entweder an der Bühnenwand stehen zu bleiben und das weitere Geschehen zu beobachten oder fast militärisch im 90-Grad-Winkel abzubiegen und seitlich zu verschwinden.
Vielleicht hat aber auch der Hauptdarsteller Bernd-Michael Baier, der sich sehr wacker und ehrenwert schlägt mit seiner nackten Majestät, nicht das Format für ein Regiekonzept, das sich letztlich ganz auf die Meisterschaft der Darsteller verlässt.

Ralph Gambihler, nachtkritik, 19.06.2011

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Viel kühles Blut und eiskalte Wortgefechte
Enrico Lübbes "Lear" am Theater Chemnitz zeigt die Mechanik der Macht

Chemnitz. William Shakespeares "Lear" ist die Geschichte des tiefen Falls eines Königs. Er will in der Obhut seiner Töchter die vermeintlichen Freiheiten des Alters genießen. Doch ist ihm längst der Instinkt dafür abhandengekommen, selbst die eigenen Töchter zu durchschauen. "König Lear", den Schauspieldirektor Enrico Lübbe in Chemnitz zum Abschluss dieser Theatersaison inszenierte, ist damit auch ein Lehrstück über die Borniertheit der Macht und den Starrsinn des Alters.
Dieses Stück ist auch eines über die Gefährlichkeit von Rhetorik und Skrupellosigkeit. Weil Lear ein Liebesbekenntnis einfordert und seine Lieblingstochter Cordelia ihm das verweigert, verteilt der amtsmüde Alte sein Reich unter die beiden machtgierigen Töchter Goneril und Regan und verbannt ausgerechnet die, die ihn wirklich liebt. In Chemnitz folgt die Erkenntnis, dass das ein Fehler war, weil ihm damit sämtlicher Einfluss nebst Obdach abhandenkommt, ziemlich schnell.
Aufs Wesentliche eingedampft
Enrico Lübbe hat den Text (Übersetzung: Werner Buhss) in etwas mehr als zwei Stunden auf das Wesentliche eingedampft. Ausstatterin Michaela Barth füllt die Bühne mit einem schlichten Holzbretter-Podest und einer Scheinwerferbatterie für atmosphärische Schnitte. Die Alltagskostüme von heute verwahren sich gegen das Historienspiel und markieren das Exemplarische dieser Reise in die finsteren Bereiche menschlicher Natur. Bert Wrede liefert dazu einen raumfüllenden bedeutungsschwangeren Sound. Dieser szenische Minimalismus verlässt sich ganz zu Recht auf einen Text, der wirkungsstark genug ist, um die Schauplätze zu imaginieren.
Mit dem Rücken zur Wand warten die Protagonisten im dunklen Hintergrund und konfrontieren ihre Figuren dann vor allem an der Rampe mit dem Zuschauer. Berührungen bleiben oft nur Behauptung. Zwar fließt auf dem Bretter-Kampfplatz jede Menge Blut, eimerweise. Aber dies bleibt stets als theatralisches Blutvergießen erkennbar. So rückt der verbale Schlagabtausch in den Vordergrund. Und dieser läuft mit der Präzision eines gut geölten Text-Uhrwerkes ab. In dieser etwas unterkühlten Mechanik schafft das oft mehr Distanz, als der ganzen Tragik gut tut. Da braucht es Darsteller, die Enrico Lübbes kühlen analytischen Blick auf das Stück aus dem Inneren der Figuren beglaubigen.
Würde eines nackten Menschen
Mit dem Charisma der Bosheit ausgestattet, überzeugen da vor allem Daniela Keckeis als schnippisch katzenhafte Regan und Ulrike Euen als abgründige Goneril. Der böse Bastard Edmund (Wenzel Banneyer) treibt einen Bruder Edgar in den nackten Wahnsinn, der bei Constantin Lücke eher nackt als Wahnsinn ist. Aber die "Guten" haben es hier ohnehin schwerer. Caroline Junghanns als Cordelia hat kaum eine Chance auf den Lorbeer der Sympathie. Dirk Lange, der als Narr den verstoßenen Lear beschützt, bleibt allzu lässig-überlegen. Im Zentrum steht der Lear von Bernd-Michael Baier. Den stattet er mit der Würde des nackten Menschen aus, der am Ende ganz bei sich ist. Dieser "Lear" profitiert von Lübbes Souveränität. Um restlos zu überzeugen, hätte er seinen Darstellern und Zuschauern aber ruhig noch etwas mehr Shakespeare zumuten können.

Joachim Lange, Freie Presse, 20.06.2011

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Enrico Lübbe entblößt mit "König Lear" Menschen-Macken
Affenliebe mit Dackelblick

CHEMNITZ - Es klingt wie "Halt, halt", was da am Ende der alte, irre, nackte, grasbekleckste britannische König ins Publikum flüstert. Sorry, Sir, das kommt etwas zu spät: vor ihm die tote Lieblingstochter, hinten weitere zwei Tochterleichen.
Wenn es um Königreiche, Grundstücke, Geld, Erbe geht, kennt der Mensch kein Halten -so befand im schweren Mittelalter William Shakespeare in der Tragödie "König Lear". Der Chemnitzer Schauspielchef Enrico Lübbe holt den King vom Thron und bürgert ihn in seiner am Sonnabend mit intensivem Premierenbeifall bedachten Inszenierung unkonventionell, irdisch und stellenweise schockierend im Heute ein.
Lear will sich zur Ruhe setzen, sein Habchen-Babchen verklingein, dafür aber so was wie betreutes Wohnen garantiert bekommen - wer ihn von seinen Töchtern Goneril, Regan und Cordelia am meisten liebt, wird -ftSÖserr belohnt Dummerweise
glaubt er scheinheiligem Gesäusel über Affenliebe mehr als einer ehrlichen Antwort, verstößt Cordelia, hört nicht auf Freunde und endet als Stück begrünter Dreck. Lübbe hat den Text (mit gespenstischer Musik von Bert Wrede) aufs Wesentliche konzentriert, lässt Könige, Herzöge, Grafen in Chemnitz-
taugliche Alltagsklamotten stecken und auf der nackten Bühne eine nackte Bühne bauen - ein simples Holzpodest (Ausstattung: Michaela Barth). "Eine Narrenbühne" wird Lear das Leben nennen und lässt
schnell vergessen, dass dieser Shakespeare-Hit ein halbes Jahrtausend alt ist.
Man schlägt sich völkerweise und ganz in Familie die Schädel ein, drischt, mordet, hetzt und petzt. Man kennt sich nicht, man berührt sich nicht. Nur ein nackter, verstoßener Sohn (Constantin Lücke) schleppt anrührend seinen geblendeten Vater (Tilo Krügel als Graf von Gloster) herum. Bewegend und gefeiert als Lear: Bernd-Michael Baier. Die wohl ergreifendste Szene, wenn der wahnsinnige König Tochter Cordelia (burschikos-ehrlich: Caroline Junghanns) wiedererkennt. "Man sollte klug werden, bevor man alt wird", erfasst Lear das ganze Elend. Überzeugend perfide und böse die Töchter mit Ulrike Euen und Daniela Keckeis. Großartiges Ensemble mit Urs Rechn (brutal als Herzog von Cornwall), Michael Pempelforth (falscher Pinkel: Herzog von Albany), Dirk Lange (treu bis zum Schluss: Graf von Kent) und Karl-Sebastian Liebich, Bernhard Conrad, Guido Schikore. Was für ein Moment, wenn Wenzel Banneyer als Glosters Bastard mit treudoof-heimtückischem Dackelblick Bruder und Vater ans Messer liefert.
Straff inszeniertes Düster-Theater über die tödlichen Macken der Menschheit. Nur eine Frage: Gibt's Theaterblut nur noch eimerweise?

Ch. Hamann-Pönisch, Chemnitzer Morgenpost, 20.06.2011

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VIDEO

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Im Blutbad der Macht
Mit "König Lear" geht die Chemnitzer Spielzeit mit dem Titel "Wolken-Heim" zu Ende

Da war es endlich mal wieder: dieses zwingende, berührende, nahezu erschütternde und doch so gute Gefühl von Theater. Wie dieser König Lear in seiner grenzenlosen Selbstherrlichkeit auf der Schleimspur seiner zwei Töchter ins Rutschen gerät, während er die Tugenden der dritten nicht erkennt. Wie er dann für das Geschenk von Macht und Geld einen Lebensabend bei seinen Kindern einfordert, der scheinbar ohne Maß ist. Und wie die Zuschauer aus einem Beinahe-Verständnis für die Tochter, die ihren kauzig gewordenen Vater nebst hundert Gefolgsleuten beherbergen soll, in pure Abscheu für das Weib und ihre noch schlimmere Schwester trudeln - das ist von Regisseur Enrico Lübbe mit viel Gespür für Dramatik hingestellt. 36 Scheinwerfer gehen über dem elisabethanischen Bühnenpodest an, wenn die Darsteller ihre Positionen in diesem Spiel einnehmen: die guten und die bösen. Und König Lear und der Graf von Gloster, die beiden Väter, die ihre treuen Kinder verstoßen und den heuchlerischen folgen. Die irren, Schuld auf sich laden und im freien Fall beschließen, das Schicksal zu meistern. Dabei verliert der eine den Verstand und der andere das Augenlicht. Shakespearesche Figuren eben: extrem gezeichnet und auf typische Charaktere reduziert. Aber um so wuchtiger gerät auch die Tragik dieser Männer, der Enrico Lübbe zum Glück keine Psychologie beibringen will. Er vertraut vielmehr der Verknappung, kurzen klaren Szenen, die das Publikum mit eigenen Erfahrungen füllt, mit Phantasie ergänzt. Schon deshalb macht er auch keinen Hehl daraus, dass alles nur Theater ist: Die Schauspieler warten im Halbdunkel auf ihren Auftritt. Betreten sie das Spielpodest, nehmen sie Haltung an und sind dabei allesamt grandios.
Bernd-Michael Baier zum Beispiel. Gerade noch sitzt er als König Lear entspannt und gefeiert auf der Bühne, schon kämpft er zornig um seine Ehre, hockt wenig später frierend im Finstern und taumelt schließlich bar jeder Habe durch die Welt. Daniela Keckeis steht ihm als Tochter Regan gegenüber, eine süßlich lächelnde Schönheit mit einer hässlichen Seele, die sie gefühllos über die Lippen bringt und
in gnadenlose Regungslosigkeit packt. Goneril, die zweite lieblose Tochter, erscheint dagegen nicht ganz so verdorben. Ulrike Euen ringt ihr zumindest flüchtige Momente von Gefühlen ab, wenn schon nicht für den Vater, dann wenigstens für den einen oder anderen Mann im Spiel.
Am Ende aber werden sie alle tot sein. Eimerweise lässt Lübbe das Blut über die Sippschaft kippen - so wie schon im "Woyzeck".
Ansonsten hat er seinen Stil des Erzählens diesmal wirklich neu erfunden.

Jenny Zichner, Stadtstreicher, 07.2011

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Wer der Macht entsagt
König Lear, der Amtsgeschäfte müde, entsagt dem Thron und teilt sein Land, die ökonomische Basis seiner Macht, unter den Töchtern auf.

Dabei erliegt er den Schmeicheleien von Goneril und Reagan, verstößt die ehrliche Cordelia. Kaum im Besitz von Grund und Boden, verweigern die gleisnerischen Schwestern dem Vater das zugebilligte Altenteil, setzen ihn dem tobenden Unwetter aus. An der Zivilisation verzweifelnd, irrt er fortan, dem Wahn verfallen, nackt durch das Stück.
Wie schon 1999 Herbert Olschok, entschied sich auch Enrico Lübbe für Werner Buhss' heutigem Sprachverständnis angeglichene Übersetzung der Shakespearschen Tragödie, wobei er rigorose Straffungen vornimmt (z.B. entfällt die Figur des Narren, dessen Part quasi der gleichfalls von Lear verstoßene, getreue Graf von Kent ausfüllt). Mit Hilfe solcher Kürzungen bringt die Regie das Geschehen auf den Punkt. Dem entspricht die optische Lösung der Ausstatterin Michaela Barth. Da "die Figuren oft in ihrem Text sagen, wo die Szene spielt" (Lübbe), bedient man sich lediglich eines einfachen, kahlen Podestes, wodurch nichts vom Text ablenkt. Dergleichen erfordert freilich eine ausgesprochen intensive Arbeit des Regisseurs mit den Darstellern, die man dem Schauspieldirektor durchgehend bescheinigen kann.
So fesselte, wie Bernd-Michael Beier (in Olschoks Inszenierung noch der Graf Kent) mit totalem körperlichen Einsatz und variablen stimmlichen Mitteln dem Titelhelden zu einer tief berührenden Wirkung verhalf. Obwohl brachialer Ausbrüche mächtig, fasziniert der Künstler vor allem mit den fast tonlos gehauchten Passagen eines gehetzten und maßlos verletzten Menschenkindes. Im Umfeld dieser grandiosen Leistung bewährten sich das in seiner Bosheit gut voneinander abgestufte Schwesternpaar Goneril (Ulrike Euen) und Reagan (Daniela Keckeis), der wie Lear vom eigenen Nachwuchs ins Elend gestoßene Gloster (Tilo Krügel) und der überzeugend für seine humane Weltanschauung eintretende Albany (Michael Pempelforth). Könnte sich Lübbe von seiner peinlichen Marotte verabschieden, für Tötungsszenen mit roter Farbe gefüllte Eimer zu verwenden, wäre der Gesamteindruck des Abends noch positiver ausgefallen.

Joachim Weise, Blitz!, September 2011


 

 

 

 

 

  Erstellt am 20.06.2015