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William Shakespeare
  "Maß für Maß"
 
Premiere am 08. Januar 2005
     
 
Regie: Alejandro Quintana
    Ausstattung: Falk von Wangelin
     
   
Gerechtigkeit ist oft nur ein Wort - wenn auch ein großes. Und so mancher schreibt die Gerechtigkeit groß, um das eigene Bild ins rechte Licht zu rücken. Shakespeares düsterstes Stück spiegelt eine Welt, in der Politik und Autorität sich nur noch am Maßstab der Eitelkeit messen, während jede Art von Gradlinigkeit der allgemeinen Feigheit zum Opfer fällt. Der Herzog zieht sich, entsprechend verkleidet, in ein Nonnenkloster zurück, um die heiklen Staatsgeschäfte seinem Stellvertreter zu überlassen. Voller Ehrgeiz übernimmt der junge Angelo das Amt und beginnt, umgeben von kleinen und großen Verbrechern, einen moralisch scharfen Kurs einzuschlagen, zu dessen Exempel er Claudio wegen vorehelicher Kindeszeugung gleich zum Tode verurteilt. Doch heimlich muss er sich eingestehen, er taugt selbst nicht zur Galionsfigur für die neue Zucht und Ordnung. Um diese schreckliche Selbsterkenntnis geheim bleiben zu lassen, würde er sogar über Leichen gehen. Dem Herzog kann's recht sein, vor der Bosheit der anderen erscheint er im gerade richtigen Licht und feiert eine triumphale Rückkehr.
Alejandro Quintana inszeniert dieses Stück mit bissigem Humor und einem klaren Blick auf die verführerische Wirklichkeit, der jeder ausnahmslos und bis zur Absurdität ausgeliefert ist.
 
Die Premiere spielten:
Herzog
-
Michael Pempelforth
Lord Angelo
-
Axel Sichrovsky
Lord Escalus
-
Klaus Schleiff
Claudio
-
Stefan Wancura
Lucio
-
Tobias D. Weber
Bernadine
-
Frank Höhnerbach
Pompeius
-
Ivan Gallardo
Gentleman / Furiensohn
-
Alexander Hetterle
Spritzer
-
Alexander Darkow*
Ellenbogen
-
Bernhard Klampfl
Profos
-
Michael-Paul Milow
Isabella
-
Antje Weber
Mariana
-
Maike Jebens
Julia / Schwester Francisca
-
Carola Sigg
Nonne / Mistress Übermaß
-
Anke Fleuter
Polizisten
-
-
Joachim Streubel **
Frank Meyer**
 
* Student der Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy" Leipzig am Studio Chemnitz
** Komparserie
 

KRITIK:

Die Verführung der Macht

William Shakespeares "Maß für Maß" hat im Chemnitzer Schauspiel Premiere

Chemnitz. Es geht drunter und drüber in Wien. In den Bordellen herrscht Konjunktur, Straftäter müssen kaum mit Verfolgung rechnen. Die Moral ist am Boden und der Herzog nicht in der Lage sein Reich in den Griff zu bekommen. Da macht er sich aus dem Staub, und unterdessen muss ein Stellvertreter ran, der den Laden wieder in Ordnung bringen und - weil dessen Scheitern vorhersehbar ist -, den Boden für eine triumphale Rückkehr des Herzogs bereiten soll.
Für Shakespeares Stück "Maß für Maß", das am Samstag im Chemnitzer Schauspielhaus Premiere hatte, erdachte sich Falk von Wangelin eine Bühne mit riesigen, verschiebbaren Metallsäulen, die kühl und zeitlos ist. So wie die verhandelten Themen an Aktualität nichts eingebüßt haben. Alejandro Quintana, der in Chemnitz bereits Brechts "Leben des Galilei" inszenierte, hat sich der nicht eben oft gespielten Komödie angenommen, die durchaus auch ihre dunklen Seiten hat. Leichter Humor drängt sich deshalb wohl kaum auf, dem Regisseur allerdings gelingt zuweilen ein herrlich lakonischer Ton. Es geht um Macht und Machtmissbrauch und die Verführbarkeit des Menschen. Denn Lord Angelo (etwas zu vordergründig Axel Sichrovsy), der als Statthalter des Herzogs die Zügel in die Hand nimmt, wittert sofort Karrierechancen. Als profilierungssüchtiger Scharfmacher versucht er mit einem Todesurteil ein Exempel zu statuieren und gerät dabei doch bald selbst in Nöte, weil er der schönen Isabella (wunderbar Antje Weber) verfällt, die für ihren verurteilten Bruder um Gnade bittet. Selbst vor der Erpressung des Mädchens schreckt der selbstgerechte Emporkömmling nicht zurück, der sich dennoch als gnadenloser Sittenwächter gibt und seine Schergen in den Straßen der Stadt Angst und Schrecken verbreiten lässt.
So recht zündet der Abend auf der Chemnitzer Bühne bis zur Pause freilich nicht. Zu holzschnittartig wirken die Figuren, die Geschichte zu unentschieden erzählt. Im zweiten Teil dagegen kommt die Sache in Fahrt. Als der Herzog, der nie abgereist ist, sondern auf Beobachtungsposten dem Treibep folgt, schließlich seine Ränke schmiedet, um am Ende gottgleich zu erscheinen, belebt sich die Szene. Michael Pempelforth beherrscht die staatsmännische Geste ebenso wie die intrigante. Dass sein Herzog sich nicht, wie von Shakespeare vorgesehen, in einer Mönchskutte versteckt, sondern als Nonne verkleidet die Fäden zieht, mag zeigen, dass der Hang zu Verfehlungen keine Geschlechterfrage ist. Überhaupt meint man, dass einige Figuren durchaus austauschbar wären. Ausgenommen allenfalls der versoffene Gewohnheitsverbrecher Barnadine (eine köstliche Studie von Frank Höhnerbach). Er steht neben diesem ganzen Zirkus.
Was die moralische Unanfechtbarkeit des Menschen und seine Affinität zur Macht anbetrifft, bleibt auch heute noch die Skepsis angebracht, die der englische Meisterdramatiker schon vor 400 Jahren unter seine spitze Feder nahm.
Die Inszenierung steuert dann doch noch auf ein wirklich großartiges Finale zu. Des Herzogs Plan geht auf. Seine Rückkehr nach Wien ist ein Siegeszug - wofür auch immer. Die Masse ist von den Enthüllungen ihrer Umtriebe und dem eigenen Opportunismus gelähmt. Drei Bräute zwingt der neue alte Herrscher unter der Haube. Doch alle schauen ziemlich belämmert drein. Liebe ist das nicht, was die Paare hier zusammenhält. Diese angeordneten Ehen sind Strafen auf lebenslänglich. Es gab viel Beifall.

Uta Trinks, Freie Presse, 10.01.2005

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"Maß für Maß in Chemnitz: Piff, Paff, Puff

CHEMNITZ-"Es ist überall wie im Puff!", brüllt ein strammer Zuhälter in einem Wirrwarr von Piff und Paff, eitlen Landeschefs, blöden Polizisten, flotten Nonnen und braven Kopfnickern - und hat damit die neueste Premiere des Chemnitzer Schauspiels gleich auf den G-Punkt gebracht: Grundübel der verkorksten Welt ist die Machtgeilheit.

Könnte zumindest Adejandro Quintana meinen, als er am Sonnabend "Maß für Maß" von William Shakespeare präsentierte. Es ist mindestens seit Kalif Harun al Raschid das alte Ding vom Herrscher, der mal unerkannt sehen will, was im Lande so passiert. Hier schlüpft ein Herzog ins Nonnengewand und übergibt vorher sein Amt dem bösen Lord Angelo. Der greift begeistert nach dem Herrschermäntelchen und gleich auch nach dem Henkerbeilchen: Claudio soll wegen eines Beischlafs einen Kopf kürzer gemacht werden.
Quintana hat - heftigst unterstützt von Falk von Wangelin (Bühne/Kostüme) - durchweg bunte Vögel auf die Bühne gestellt, schrille Klapser, Gaga-Karikaturen. "Die Welt läuft nicht mehr rund!", kreischt es vor drehenden Lochblechtürmen. Der grelle Fummel ist Programm, jedes Kostüm ein Typ: Im Herrscherrock werden die Beine gestelzt, im Nonnengewand erwartungsfroh zusammengekniffen, in Männerhosen stolz geschüttelt, in - wieder mal sehr russischen - Uniformen gestreckt, im Nuttenrock gespreizt.
Wie Im Puff geht es in der Inszenierung mal rein, mal raus: Mal ist es schrecklich langweilige Verwechslungsklamotte, mal herrlich bitterbös-witzige Politsatire. Der neue Regierungs-Chef dreht die Blechtürme um - fertig ist die neue Politik. Dazwischen bleibt alles beim Alten, man hetzt, petzt, wirft sich Zoten an den Kopf. Das Ensemble tobt sich engagiert unter der Gürtellinie aus, allen voran Michael Pempelforth - er brilliert als verdatterter Herzog und gütig-intrigante Mutter-Schwester-Nonne.
Axel Sichrovsky - ein eiskalt-verklemmter Lord Angelo. Antje Weber (Isabella) glubscht göttlich, Stefan Wancura (Claudio) gibt cool sein Leben, Tobias D. Weber (Lucio) ein allerliebstes Schandmaul, Frank Höhnerbach als drolliger Suffkopp Barnadine wird zu einer hübschen Schwejkiade aus einem Loch gezerrt.
Die Sache geht bestimmt, vielleicht oder überhaupt nicht gut aus. Es gibt keine Guten, keine Bösen. Überall weinerliches, verlogenes Gesocks. Jeder kriegt, was er verdient. Der Herzog schleppt seine Isabella ab wie einen schlappen Kartoffelsack. Lustig. Viel Beifall. Aber wie nach dem Puffbesuch ohne hervorhebenswerte Nachwirkungen.

 

Ch.Hamann-Pönisch, Chemnitzer Morgenpost, 10.01.2005

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"Falsche Moralisten und echte Sünder

Das Schauspiel Chemnitz zeigt Shakespeares Komödie "Maß für Maß".

Langsam dreht sich die Bühne: ein überaus nüchterner Platz, vielleicht eine Stadt mit Wolkenkratzern. Jedenfalls aber eine eiserne Festung von geradlinigem Geist. Denn soeben hat der liberale Herzog alle Staatsgeschäfte seinem Stellvertreter Angelo übergeben, damit er austeste, ob sich mit harter Hand regieren lässt. Der Übergangsregent legt sich dann auch mächtig ins Zeug. Vor allem moralische Verfehlungen ahndet er streng. So geraten nicht nur eine Nutte und ihr Zuhälter in Not, auch Claudio soll wegen eines vorehelichen Liebesaktes hingerichtet werden. Und schon beginnt das Shakespearesche Verwirrspiel, dass Regisseur Alejandro Quintana in Chemnitz mit spitzer Zunge erzählt. Am Sonnabend war die Premiere.

Ein Herzog als Nonne
Er führt sie alle vor, die gottgefällige Schwester des Delinquenten ebenso wie den pflichtbewussten Angelo. Und selbst der Herzog kommt nicht makellos davon. Er, der den Ort nie verlassen hat und nun als Nonne das Geschehen beobachtet, entpuppt sich als glänzender Intrigant mit lustvoller Vorgeschichte. Michael Pempelforth zeigt den untergetauchten Machthaber in würdiger Haltung. Er entlockt der vorgetäuschten Weiblichkeit nicht nur den naheliegenden Witz, sondern gleichsam den integeren Charakter einer Gottesdienerin. So bleibt er eine interessante Erscheinung mit verborgenen Gefühlen und Gedanken - ein wahrer Machthaber.
Ganz anders sein Stellvertreter: Der Möchtegern ist schnell durch schaut - und trotzdem die wohl spannendste Figur in diesem Spiel. Das liegt zuallererst an Axel Sichrovsky, der den skrupellosen Herrscher mit allerhand vermeintlichen Schwächen ausstattet: mit der Liebe zum klassischen Tanz, mit unbeherrschter Lust und Selbstzweifeln. Mal lässt er tief blicken, dann gleich wieder hart abprallen - eine wahrlich brillante Vorstellung.

Isabelle hat mehrere Gesichter
Auch Antje Weber als Isabella hat mehrere Gesichter. Als sie für ihren Bruder um Gnade bittet, bringt sie den Potentaten mit ihrer steifen Frömmelei regelrecht in Versuchung. Mit Claudio selbst geht sie dann gar nicht so verstockt um: Schon einen Tick zu praktisch bringt sie ihm den Tod nahe, der doch nur zu verhindern wäre, wenn sie sich Angelo hingäbe. Und schließlich ist es mit aller Gottesfürchtigkeit vorbei, wenn sich das Problem mit Arglist lösen lässt.
Insgesamt gibt es eine wirklich spielfreudige Inszenierung zu sehen rund um falsche Moralisten, vorlaute Mitläufer, machtbesessene Schlappschwänze, normale Sünder und einen standhaften Verweigerer. FaIk von Wangelin baute ihnen eine formschöne, fast schon sterile Kulisse, die umso mehr hervorhebt, dass das Ensemble diese Geschichte mit viel Leben füllt.

Jenny Zichner, Sächsische Zeitung, 10.01.2005

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Das tolle Spiel der schlechten Gesellschaft

Kampf der Dekadenz! Schnitzler, Shakespeare und Schleef liefern den dramatischen Reigen, aus dem in dieser Saison auf dem Chemnitzer Theater die schlechten Menschen gemacht sind.

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Moralinsaures Theater gibt es deshalb noch lange nicht. Wurde doch selten mit so viel konspirativer Naivität Shakespeares generöses Schlussplädoyer ins Publikum gerufen:"Heute ist mir irgendwie nach allgemeiner Amnestie!" Ein ganzes Volk von Saboteuren, Scharfmachern und Fallenstellern wird im Handumdrehen von seinem Herren, dem Herzog von Wien, in die unverdiente Freiheit entlassen.
"Maß für Maß" ist eigentlich ein Trauerspiel. Ganz Wien belügt und betrügt sich, weil die Katze, der Herzog, aus dem Haus ist. Doch Shakespeare und mit ihm das Ensemble des Chemnitzer Schauspiels leisten sich den Luxus, komisch zu sein. Mit viel Schminke, Kostüm und Spielwitz wird das Unfassbare - das politische Exempel Todesstrafe - fassbar gemacht. Das Publikum wird in groteske, bisweilen zirzensische Bildwelten entführt. Die Gesichter beinah so blass wie das des Weißclowns, harlekinesk rot geschminkte Münder, Kostüme in Rüsch, Samt und Seide - es spielt sich fröhlich feudal. Wer sich nach seiner Angebeteten verzehrt und ihre Finger küsst, verschluckt sich sogleich an ihrer ganzen Hand. Wer Kerkerhaft erträgt, agiert frivol aus den Klappen des Bühnenbodens heraus und mimt den Bajazzo im knallorangen Guantanamo-Bay-Overall. Und wer Prügel bezieht, der erhält sie nach allen Regeln der Bühnenkunst gründlich.
Antje Weber spielt die unschuldige Bürgerstochter Isabella. Sie strahlt den unbestechlichen Charme eines weiblichen Großinquisitors aus und treibt das Schwungrad der Dramaturgie kräftig an. Für ihre moralische Integrität nimmt Isabella den Tod ihres Bruders Claudio (Stefan Wancura) in Kauf Dieser lässt keine Gelegenheit aus, mit seinem von allen guten Geistern verlassenen Freund Lucio (Tobias D. Weber) und allerhand närrischen, bisweilen proletenhaften Spielchen das System "Staat" zu demaskieren. Und Lord Angelo (Axel Sichrovsky), der Möchtegern- und Interimsherrscher, will seine Macht wahren, indem er für Vergehen exekutiert, derer er sich selbst schuldig macht. Diesem allen sieht Michael Pempelforth als vagabundierender Herzog inkognito zu: Sich selbst von den Amtsgeschäften enthoben, um sein Volk der Selbstreinigung zu überlassen, geht er als Mönch und Nonne verkleidet auf Mauerschau und verirrt sich bisweilen im Flirt mit anderen Klosterdamen. Dass der Abend in der Regie von Alejandro Quintana nicht zum faden Lehrstück gerät, ist dem Mut zur Maskerade zu verdanken. Der Staat zeigt sich als Machtzirkus. Dazu bietet das so schlichte wie phallisch-metaphernreiche Bühnenbild dem bisweilen virtuos aufspielenden Ensemble den Raum: Sieben blanke Stelen aus Metall ragen empor und formen das Raster, in dem die politischen Schachereien ausgetragen werden. Hinter den Säulen wird gehorcht, vor ihnen gelogen. Dann und wann bilden sie den Parcours für Liebesjagden.

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Inmitten eines Wohngebietes und leicht außerhalb des Stadtkerns gelegen, kann das Schauspiel Chemnitz sicherlich keinen spektakulären Standortvorteil für sich reklamieren. Mit seiner neuen Schauspielchefin Katja Paryla und einem hochengagierten Ensemble erspielt es sich jedoch die Bilder in unserer Fantasie, mit denen wir an die wahrhaft interessanten, weil imaginären Orte unseres Lebens gelangen können.

Christian Horn, Theater der Zeit, Mai 2005

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  Erstellt am 01.05.2005