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Einar Schleef nach Carlo Goldoni
  "Wilder Sommer"
 
Premiere am 6. November 2004
     
 
Regie: Katja Paryla
    Ausstattung: Lothar Scharsich
     
Venedig. Das 18. Jahrhundert geht dem Ende entgegen. Jenseits der Grenzen rumort es. Doch die Menschen der kleinen Inselrepublik machen weiter wie eh und je.


Ein alter Palazzo, der schon bessere Zeiten gesehen hat: der Schimmel und die Risse in den Wänden sind nicht mehr zu übertünchen, der Ruin ist nicht mehr aufzuhalten. Hier wohnen ein Vater mit drei heiratsfähigen Töchtern und einer älteren liebestollen Tante; hier wohnt eine Schwester mit ihrem Bruder, der heiraten muss, um nicht unter einem Schuldenberg zu ersticken. Und hier wohnt- unten in seinem Kontor- ein Advokat, der die Wände mit Schuldscheinen tapeziert.
Besucher kommen und gehen: Galane, Bankrotteure, Frauen, die kaufen und sich verkaufen, ein Diener, der allen in allem zu Diensten ist, ein Schneider, der nicht bezahlt wird.
UND ES IST SOMMER- und HEISS in Venedig. Flüchtlinge sollen einquartiert werden und die einzige Hoffnung ist die SOMMER-frische- EIN WILDER SOMMER! Tage und Nächte am Meer: ein bisschen Liebe, Berührungen, ZÄRTLICHKEITEN. Dafür ist man bereit alles auf eine Karte zu setzen, auch wenn es den letzten Rest Würde, das letzte Goldstück kostet.
 
Die Premiere spielten:
Bernardino
-
Klaus Schleiff
Gräfin Orsina
-
Antje Weber
ein Mädchen
-
Luise Heinrich **
Schneider
-
Michael-Paul Milow
Paolo
-
Ivan Gallardo
Fillipo
-
Frank Höhnerbach
Glacinta
-
Sylvia Btretschneider
Leonora
-
Isabel Baumert *
Angelica
-
Christiane Paulick *
Sabina
-
Anne-Else Paetzold
Leonardo
-
Alexander Hetterle
Vittoria
-
Sabine Fürst
Ferdinando
-
Tilo Krügel
Graf Anselmo
-
Stefan Schweninger
Die Brüder Manini, Guglielmo
-
Stefan Wancura
Die Brüder Manini, Tognino
-
Bernhard Klampfl
Die Brüder Manini, Bruno
-
Alexander Darkow *
Die Brüder Manini, Riccardo
-
Michael Hinze
Brigida
-
Katharina Schmidt *
Betschwester
-
Antje Weber
Celio
-
Philipp Teich
Constanza
-
Carola Sigg
Rosina
-
Elvira Grecki
Russische Geschwister
-
Sabine Fürst
Russische Geschwister
-
Alexander Hetterle
Fulgenzio
-
Jürgen Lingmann
     
* Studenten der Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy" Leipzig am Studio Chemnitz
** Mitglied des Theaterjugendclubs
 

KRITIK:

Saisonstart
Neue Schauspieldirektorin Katja Paryla inszeniert "Wilder Sommer"

Die fetten Jahre sind vorbei. Der Putz ist ab. Allein die Schuldscheine werden immer mehr. Und die Sommerfrische steht bevor. Sollte die Reise in diesem Jahr am Geld scheitern? Nein. Sie fahren. Koste es, was es wolle.
Schnell ist das ganze Haus in Aufruhr: Die Töchter von Filippo kreischen. Guglielmo und seine Brüder flirten. Leonardo begehrt seinen Diener Paolo, will allerdings die schöne Giacinta heiraten, um sein Auskommen zu sichern. Auch seine Schwester sucht eine gute Partie, seit sie sich von einem abgehalfterten Graf schwängern ließ. Und Ferdinando hält sich durch eine Liaison mit der alten Sabina über Wasser.

Die neue Chemnitzer Schauspieldirektorin Katja Paryla inszenierte dieses Gesellschaftsbild als rasanten Reigen aus ebenso humorvollen wie tragischen Charakteren. Treppab, treppauf stolpern sie in ihren Rokoko-Kostümen durchs Leben und durch das heruntergekommene Heim, in dem Ausstatter Lothar Scharsich viele wunderbare Spielräume schuf.

Ferien allein machen
nicht glücklich

Da sitzt Anne-Else Paetzold wie ein Porzellanpüppchen auf der Couch und spielt die alte Sabina derart entrückt, dass selbst ihr Wimpernschlag urkomisch wirkt. Ivan Gallardo macht den Diener Paolo dagegen zu einem wahren Tausendsassa, dessen pures Erscheinen alsbald für Amüsement sorgt. Auch Tilo Krügel verschafft Ferdinando einen überaus heiteren Weltschmerz, gibt die gebrochene Seele mit großem Hunger.
So versammelt die Regisseurin rundherum interessante Figuren, um sie in die Ferien zu schicken. Ans Meer, wo die Ernüchterung einsetzt: Für die kleine Gemeinschaft, die die Luftveränderung nicht glücklicher macht. Und für die Zuschauer, die zum Ende hin eine deutlich schwächere Inszenierung erleben als vor der Pause. Wohlgemerkt: Langweilig wird's nie, aber die Spritzigkeit, das Augenzwinkern gehen verloren.

Jenny Zichner, Sächsische Zeitung, 08.11.2004

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Schlafen, schuften, rammeln
Premiere "Wilder Sommer" in Chemnitz

"Wenn es Not tut, gebt sofort!", wird hinaus auf das Meer und hinein in das Publikum appelliert. Bedeutungsschwanger geht Einar Schleefs "Wilder Sommer" zu Ende.

Vorsicht bei Theater, das einem zum Schluss noch mal die Botschaft um die Ohren haut: Mit erhobenem Zeigefinger strandet sacht die erste Inszenierung der neuen Chemnitzer Schauspieldirektorin Katja Paryla.
Aus einem 26-köpftgen Ensemble hat die Regisseurin ein irres Völkchen gemacht, das sich mit ziemlich quirliger Spielfreude (hübsche Szenen mit Anne-Else Paetzold, Antje Weber, Frank Höhnerbach, Klaus Schleiff, Tilo Krügel, Jürgen Lingmann, Stefan Wancura) anfangs amüsante, manchmal geistreiche, überwiegend gossige, letztlich auch im Chor ermüdende Wortgefechte liefert: eine armselige Haus-Gesellschaft, alle sind pleite, einer hängt schon selig stranguliert auf dem Dachboden. Die Lage Ist hoffnungslos, aber wenigstens ein bisschen Spaß will man noch haben.
Das beginnt verheißungsvoll turbulent Aber dann hoppelt die Inszenierung doch nur fröhlich schnatternd zwischen Geld und Geschlechtsverkehr bin und her. "Schlafe, schufte, rammle, das ist das Einzige, was de Mensche kenn", resigniert ein Schneiderlein.
Dazu dreht sich auf der Bühne praktischerweise ein Gebäude mit vielen Türen, die auch ständig heftigst auf- und zugeschlagen werden - von aufgeheizten Töchtern, einer strammen Latino-Boygroup, einem Kinderschänder-Grafen, einer Betschwester, russischen Einwanderern, einem genervten Papa, einer drolligen Tante und einem stets kussbereiten halbschwulen Diener.
Alle treffen sich, erstaunlich dusslig kostümiert (Ausstattung: Lothar Scharsich), nach der Pause zur Sommerfrische wieder. Auch da wird sich wild betatscht. Aber das ist kein packendes Theater. "Ferdinando!", brüllt es "Heiraten!", quiekt es, "Ein Karzinom, ein Karzinom!", singt es Jubelnd in der kaputten Meute. Bei Möwengekreisch, Machogeschrei und Weibergequietsche verschwappt dieser "Wilde Sommer" (nach Goldoni) immer mehr zur zahmen Herbstklamotte. Ebenso zahm war am Sonnabend der Schlussapplaus für die deutsche Erstaufführung.

hap, Chemnitzer Morgenpost, 08.11.2004

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In Bewegung auf der Stelle tretend
Deutsche Erstaufführung für "Wilder Sommer" in Chemnitz

Reisevorbereitungen und Heiratspläne. Und einer hat sich aufgeknüpft. Macht nichts. Die Sommerfrische ruft und wirklich wichtig ist doch jetzt die Sitzplatzverteilung für die Fahrt. Wird hoffentlich wieder ein "Wilder Sommer" am Meer. Den man sich zwar nicht leisten kann, aber was soll's.
Einar Schleefs Komödie, die er nach der "Trilogie der Sommerfrische" von Garlo Goldoni schrieb und die am Samstag im Chemnitzer Schauspielhaus ihre deutsche Erstaufführung erlebte, bietet kreischende Mädchen, singende Burschen, wechselseitig übereinander herfallende Liebhaber. Dazu einen Schneider, der versucht ausstehende Rechnungsbeträge einzufordern, und einen schmierigen Geldverleiher. Doch von diesen Typen lassen sich die feinen Herrschaften nicht aufhalten. Eine Mutter bietet dem Advokaten ihre minderjährige Tochter an. Ein anderer ruft: "Ich heirate dich, da kann ich dich wenigstens anpumpen." Am Ende knüpft der Schuldscheinschreiber die Verbindungen - in den denkbar schlechtesten Fügungen. Alles hängt am Wechselkurs. Neu ist diese Erkenntnis nicht Geld und Liebe, das sind die Konstanten. Abwesende allerdings. Kichernd wird von Bankrott, Pleite, Konkurs, Schulden, Ruin gesprochen. Daran hat man sich gewöhnt. Es geht weiter wie bisher. Der Zuschauer saß im Theatersaal, während daheim die Tagesschau lief, und sah, obwohl dieses Stück im 18. Jahrhundert spielt, nichts anderes: den täglichen Bericht aus Berlin. Die sind nicht zu retten.
Treppen, Salon und viele Kämmerchen hat Lothar Scharsich auf die Bühne gebaut. Es ist ein ewiges Gerenne, auf und ab, hin und her. "Wir fahren!" "Wir fahren nicht!" "Wir fahren doch!" Schnell stellt sich im Parkett Überdruss ein angesichts der hektischen Betriebsamkeit, die ins Leere geht. Für Kabarett wäre die Sache in fünf Minuten erledigt gewesen, was im Schauspielhaus reichlich zweieinhalb Stunden dauert und die Nerven strapaziert. Eine Dame namens Orsina seufzt in der Bühnensommerfrische: "Ich langweile mich." Wer mag ihr da im Zuschauerraum im Stillen zugestimmt haben? Dieser Abend ist ein großes Palaver. Es wird viel gerannt und noch mehr gesprochen, ziemlich schnell sogar, weshalb auch nicht alles zu verstehen ist. Aber das muss man offensichtlich gar nicht.
Eine skurrile Gesellschaft wird vorgeführt, die nur mit sich selbst beschäftigt ist Ständig in Bewegung auf der Stelle tretend. Es ist ein Sittenbild, ein Stück über den Stillstand, so wie diese Inszenierung beizeiten zum Stillstand kommt. Am Schluss werden aphoristisch anmutende Sätze nur noch deklamiert, beinahe skandiert - Anklang an Schleefs Regiemarkenzeichen, den Sprechchor. Viel Ensemble ist aufgeboten. Doch wirklich zu spielen gibt es für die Mimen wenig, die Figuren sind Karikaturen von vorn herein. Einige wenige Lichtblicke waren Anne-Else Paetzold (als not-geile Alte) und Frank Höhnerbach (als Vater dreier heiratsfähiger Töchter) zu verdanken.
Sicher, mit Einar Schleef in die Spielzeit zu starten und den inszenatorischen Einstand als Schauspieldirektorin zu geben, das war mutig von Katja Paryla. Zweifellos gehört der 2001 verstorbene Schriftsteller, Theaterautor, Regisseur, Maler, Fotograf, Bühnenbildner und Filmer zu den wichtigsten und gleichwohl umstrittenen deutschsprachigen Theatermachern der Gegenwart. Aber schon die Uraufführung von "Wilder Sommer" in Schleefs Regie selbst konnte 1999 am Wiener Burgtheater nicht überzeugen. Die deutsche Erstaufführung in Chemnitz kann es ebenso wenig. Der müde Applaus wäre noch kläglicher ausgefallen, hätten nicht zahlreiche Theaterleute im Publikum gesessen.

Uta Trinks, Freie Presse, 08.11.2004

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Das tolle Spiel der schlechten Gesellschaft

Kampf der Dekadenz! Schnitzler, Shakespeare und Schleef liefern den dramatischen Reigen, aus dem in dieser Saison auf dem Chemnitzer Theater die schlechten Menschen gemacht sind.

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Dass der Mensch schlecht ist, wenn man ihn nur lässt, mag sich auch Einar Schleef gedacht haben. Sein "Wilder Sommer" bildet eine Variation auf Goldonis "Trilogie der Sommerfrische". Oder, wie Schleef selbst es ausdrückte, "eine Erinnerung in meiner Sprache".
So lückenhaft wie Erinnerungen sind, so zerfahren ist auch Schleefs Szenenmosaik. Im Zentrum des Geschehens steht eine versuchte Heirat. Eine hübsche Dame aus gutem Hause muss sich entscheiden zwischen zwei Herren höheren und niederen Standes. Doch sie weiß nicht so recht, was sie will. Und die beiden Herren wissen es bald auch nicht mehr. Eifersüchteleien, Liebesschwüre und Unschuldsbeteuerungen machen die Runde. Dazu hebt die Kakophonie der Empfehlungen von Vätern, Schwestern, Tanten und Freunden an. Das eigentlich geräumige Stadthaus wird bald zu eng für so viel Beschäftigung mit sich selbst, Rettung verspricht da die Sommerfrische am Meer. Doch die Kutsche fehlt. Und als sie endlich da ist, gerät die Sitzordnung zum Disput. Und als diese geklärt ist, nun, da ist der Kutscher wieder weg usw. usf.
Schleefs Dramenherstellung im Erinnerungsverfahren kann als Versuch gesehen werden, einem morbiden Stoff mit morbiden Mitteln Herr zu werden. Ordnung in dieses szenische Labyrinth zu bringen, kann zumindest für den Theaterbesucher innerhalb eines kurzen Theaterabends nicht gelingen. Was bleibt, ist ein Durcheinander der Verhältnisse, das bewusst auf die Spitze getrieben wird: Das zweistöckige Stadthaus kreist auf der Drehbühne, ein Zimmer nach dem anderen schiebt sich in den Vordergrund, Liebhabertreten auf und treten ab, heimliche Favoriten jagen die Treppen rauf und runter, Freundinnen lauschen, Türen schlagen, der Diener verlädt seinen Herren und eine Gruppe gut gelaunter junger Männer stimmt mit Gitarre immer wieder kleine Couplets ("lt's wonerful, it's wonderful ... I dream of you") an. Vaudeville und Commedia dell'Arte füttern die postmoderne Szenencollage prächtig aus.
Und wieder, wie auch in "Maß für Maß", wird das Spiel mit den Verhältnissen zur Groteske.Die satirisch-böse, bisweilen auch provokativalberne Inszenierung von Katja Paryla zeigt das Sittenstück "Wilder Sommer" in seiner deutschen Erstaufführung als dunkle Komödie. Im ersten Bild hat sich ein Mieter im Hausflur erhängt, ins letzte Bild der Sommerfrische dringt die Nachricht vom verstorbenen Familienfixpunkt, dem Onkel Bernadino. An der von allen eilig verlassenen, üppig eingedeckten Urlaubstafel bleibt einzig ein kleines Mädchen zurück. Es greift sich eine Torte und beschließt das Spiel lachend.

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Inmitten eines Wohngebietes und leicht außerhalb des Stadtkerns gelegen, kann das Schauspiel Chemnitz sicherlich keinen spektakulären Standortvorteil für sich reklamieren. Mit seiner neuen Schauspielchefin Katja Paryla und einem hochengagierten Ensemble erspielt es sich jedoch die Bilder in unserer Fantasie, mit denen wir an die wahrhaft interessanten, weil imaginären Orte unseres Lebens gelangen können.

Christian Horn, Theater der Zeit, Mai 2005

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  Erstellt am 07.06.2005